Zur Philosophie des Schreibens



Bevor wir uns mit der Handschriftendeutung / Graphologie, ihren Deutungstechniken und Hintergründen der Ausdruckspsychologie auseinandersetzen, müssen wir uns über die Philosophie des Schreibens, des Schreibvorganges beim Erlernen der Schulschriften bewusst werden.

Denn die Graphologie deutet vor allem die individuellen, persönlich gestalteten Abweichungen von der erlernten Schulschrift.

Deshalb wollen wir uns vorerst mit der Philosophie der Kalligraphie befassen und erkennen dabei, dass das Erlernen der Kalligraphie nicht so weit entfernt ist vom Erlernen einer Schulschrift - nicht so weit, wie wir vielleicht vermuten.

Vor allem die Haltung beim Schreibvorgang, die Sorgfalt, der Respekt und das Mithineinfliessen der eigenen Seele scheint mir von grosser Wichtigkeit.

Der vorliegende Text ist etwas vom Schönsten, was ich als Graphologin je fand über das Thema des Erlernens und Entwickeln der eigenen Handschrift.

Der Text mag auch ein nachdenklich stimmender Beitrag sein zur heutigen Diskussion über die Schulschriften der Schweiz.

Im nachstehenden Text eines Dichters und Nicht-Graphologen wird nicht nur das Ueben der Formungen erwähnt, sondern wird im Verborgenen hintergründig sogar indirekt eingegangen auf den wechselnden Druck, auf den wechselnden Strich-Charakter - dann, wenn er den Schreibenden mit einem hämmern den Schmied vergleicht.





Philosophie der Kalligraphie

(in Uebertragung auch auf das Erlernen der normalen Schulschrift):

"Die Feder, mit der Sie jetzt schrieben, ist nur ein Werkzeug. Sie hat kein Bewusstsein, sie folgt dem Willen dessen, der sie hält. Und darin ist sie dem ähnlich, was wir >Leben> nennen. (....)
In diesem Augenblick liegen in Ihrer Hand, in der Feder, die jeden Buchstaben zeichnet, alle Absichten Ihrer Seele. Versuchen sie, das zu begreifen."

"Ich begreife es, denn ich sehe, dass es wichtig ist, eine bestimmte Anmut zu wahren. Weil Sie von mir verlangen, dass ich mich zuerst in einer bestimmten Position hinsetze und das Material ehre, das ich benutze, und erst dann zu schreiben beginne." (...)

"Die Anmut ist nichts Oberflächliches, sondern ein Mittel, mit dem der Mensch das Leben und die Arbeit ehren kann. Lassen Sie sich daher nicht irritieren, wenn die Schrift auf sie falsch und künstlich wirkt. Sie ist echt, weil sie schwierig ist.

Sie führt dazu, dass sowohl das Papier als auch die Feder stolz auf Ihre Bemühungen sind.

Das Papier hört auf, nur eine plane, farblose Oberfläche zu sein, es erhält die Tiefe der Dinge, die dorthin gesetzt werden.

Die Anmut ist die Haltung, die für eine vollkommene Schrift die angemessene ist. Das ist genauso wie im Leben: Wenn das Ueberflüssige abgestossen wird, entdeckt der Mensch die Einfachheit und die Konzentration: Je einfacher und ernster die Haltung, desto schöner, auch wenn sie anfangs unbequem erscheint." (....)

Es gibt zwei Arten von Buchstaben...(... )
Die einen sind perfekt, doch ohne Seele geschrieben. In diesem Fall hat sich der Kalligraph, obwohl er die Technik beherrscht, nur auf das Handwerkliche konzentriert - und sich deshalb nicht weiterentwickelt, er wiederholt sich immer wieder, kann deshalb nicht wachsen, und eines Tages wird er das Schreiben lassen, weil er findet, dass es nur noch Routine ist.

Die zweite Art von Buchstaben sind die, die mit technischem Können, aber auch mit der Seele geschrieben sind. Dazu muss die Intention des Schreibenden mit dem Wort übereinstimmen. In diesem Falle verlieren die traurigsten Verse ihren Schrecken und werden zu etwas Selbstverständlichem, das uns auf unserem Weg immer wieder begegnet. (...)

Sie wissen bereits, welche Mühe es kostet, die richtige Haltung einzunehmen, die Seele zu beruhigen, das Ziel deutlich vor sich zu sehen, jeden Buchstaben eines Wortes zu achten.

Doch einstweilen sollten Sie einfach nur üben. Wenn wir lange genug geübt haben, denken wir nicht mehr an die einzelnen Bewegungen: sie werden zum Teil unseres Lebens. Um diesen Zustand zu erreichen, müssen wir allerdings üben, üben, und nochmals üben. Und nochmals und nochmals.

Beobachten Sie einmal einen guten Schmied dabei, wie er Stahl bearbeitet. Für das ungeübte Auge wiederholt er die immer gleichen Hammerschläge.

Aber wer die Kunst der Kalligraphie kennt, weiss, dass die Intensität des Schlages jedes Mal eine andere ist, wenn er den Hammer hebt und senkt.

Die Hand wiederholt jedes Mal die gleiche Bewegung, aber während die Hand sich dem Eisen nähert, weiss sie, ob der Hammer es härter oder sanfter berühren muss.

So ist das mit der Wiederholung: Auch wenn alles gleich aussieht, ist es jedes Mal anders.

Irgendwann wird der Augenblick kommen, in dem Sie nicht mehr über das nachdenken, was Sie tun.

Sie werden zum Buchstaben, zur Tinte, zum Papier, zum Wort.

(...) Ihre Kalligraphie wird immer persönlicher, spontaner.

Sie ist nicht nur eine Wiederholung der Schönheit, sondern eine persönliche schöpferische Geste.

Sie haben begriffen, was die grossen Maler wissen:

Um Regeln zu vergessen, muss man sie kennen und achten."

(Paulho Coelho "Die Hexe von Portobello", Diogenes Verlag, Zürich, 2oo7, S.92 f )