Was ist Graphologie und wie funktioniert sie?

Ines Grämiger, 2011



(Hinweis: Die männliche Wortform steht im folgenden Text auch für die weibliche)
Graphologie ist ein Bereich der Ausdruckspsychologie und bedient sich der Deutungsprinzipen der Ausdruckspsychologie, der Deutung der Raumsymbolik, der Bewegungs- und Formendeutung etc.

In der Handschrift drücken sich Charakter- und Persönlichkeitsstrukturen via Hirntätigkeit und Feinmotorik der Hand aus.

In der Handschrift kommen also seelische Eigenarten in Verbindung mit der Hirnphysiologie und der Bewegungsmotorik.

Das heisst: Die Seele, der Charakter und die Persönlichkeitsstrukturen fliessen via Hirnprozesse in die Feinmotorik der Hand und werden dann in der Handschriftspur auf dem Papier visuell sichtbar.

Die Schrift ist also ein sehr komplexer, ganzheitlicher Vorgang.

Die Handschriftenanalyse ist aber auch quasi auch ein psychologischer "Test". Und es ist fast der einzige psychologische Test (ausser den Zeichnungstests), wo auch die Hirnphysiologie mitspielt und in ihrer Wirkung miteingeschlossen ist.

Die Graphologie beruht auf der These und Erfahrung, dass sich die Seele und Charakter in der Handschrift niederschlagen in:

a) Formung b) Raumgestaltung c) Bewegungen d) Strich (wenn man den Strich des Schreibenden unter acht-facher Lupenvergrösserung anschaut).

Der Graphologe deutet daher sowohl die Formungen (misst diese sogar in Millimetern mit dem Massstab) als auch die Bewegungsabläufe, die Raumgestaltung oder die Gliederung auf dem Papier als auch den Strich.

Durch die Bewegung auf dem Papier entstehen die Formungen und wird der Raum gegliedert. Und während der Bewegung entsteht unbeachtet eine individuelle Textur des Striches, vergleichbar mit der Textur eines Stoffes, welche sich der bewussten Kontrolle entzieht!

Damit der Graphologe eine Strich-Analyse unter acht-facher Lupenvergrösserung machen kann, benötigt er immer eine Originalhandschrift und keine Kopie.

Wenn wir eine Schrift vor uns haben, können wir das sogenannte kinästhetische Prinzip (Kombination von Bewegungseinfühlung mit visueller Wahrnehmung der statischen Formen) anwenden: wir können den Bewegungsablauf kontinuierlich nachvollziehen, uns in diesen einfühlen und die Entstehung der Formen durch die Bewegung verstehen.

Sämtliche Kulturen und Länder haben dabei ihre eigene Schulschrift entwickelt, welche den Schülern im Detail gelehrt wird. Diese Schulschriften der verschiedenen Länder werden als Normschriften gelehrt und erlernt.

Der Graphologe nun deutet v.a. die individuellen Abweichungen der Handschrift eines Schreibenden von dieser gelernten Norm-Schulschrift.

Alles, was von der gelernten Norm abweicht, ist ein Ausdruck der eigenen Persönlichkeit!

Darum muss der Graphologie auch immer wissen, in welchem Land jemand die Schulschrift erlernt hat.

Ausserdem ist es wichtig, dass der Graphologe die Schulausbildung und Berufsausbildung kennt. Denn v.a. durch den Beruf ergeben sich oft gewisse "deformations professionelles" / Berufsdeformationen der Schrift (z.B. eignen sich technische Zeichner wegen ihres Berufes oft eine sehr korrekte, leserliche bis zwangshafte Schrift an)

Was alles zeigt sich in der Handschrift?

Die Handschrift kann Auskunft geben über folgende Gebiete:

Allgemeine Charakter- und Persönlichkeitsstruktur - Typologien (Intro- oder Extraversion nach C.G. Jung, die Jungschen Typen - Temperamente - Konstitutionstypen - schicksalspsychologische Typologie) - triebhafte Bedürf-nisse - Triebwünsche und -abläufe sowie deren Kontrolle und Abwehr - Vitalität, Urkraft, Aktivitätspotential - Grob- und Feinmotorik - Affekte und Emotionen - Ichstärke - Belastbarkeit - Intelligenz und Begabungen - Neigungen und Eignungen - Arbeitscharakter - Fähigkeit zum Allrounder oder Spezialisten - Führungsfähigkeit, Teamfähigkeit, Selbständigkeit - Durch-setzungsfähigkeit - Selbstsicherheit und Selbstgefühl - Bewusstseinsfähigkeit - Wille - Reife - Beziehungseigenschaften - Kommunikation - Stärken und Schwächen, Grenzen, Stressfaktoren der Persönlichkeit - Gleichgewicht, Harmonien, Integriertes - Ungleichgewicht, Disharmonien, Widersprüche und Ambivalenzen in der Gesamtpersönlichkeit - "Schatten" (nach C.G. Jung), dh. Abgespaltenes, Abgewehrtes - gelebtes und ungelebtes Potential

Anwendungsbereiche der Graphologie

Die Graphologie eignet sich einerseits zur eigenen Selbsterkenntnisö. andererseits aber auch für die Berufs- und Laufbahnberatungö.
für Personal-Selektionen in Firmen und Ausbildungenö.
für Krisenberatungen, Standort-bestimmungen der Einzelpersonenö.
aber auch für die Partnersuche, Paar und Eheberatung und -coaching und bei Partnerkrisen..
aber auch für die Analyse von ganzen Gruppen wie Familien, Arbeitsteams, Chef und Mitarbeiter, Untergebeneö..
oder gar für die wissenschaftliche Erforschung ganzer Berufsgruppen (wie sie an der HAP, Hochschule für Angewandte Psychologie in Zürich, teils unter meiner Aegide, oft gemacht wurden und werden)ö.

Die Handschriftenanalyse kann nun als alleiniges Instrument verwendet werden oder aber in Kombination mit anderen Verfahren (wie Personalgespräch, Assessements, anderen psychologischen Tests wie Zeichnungen, Warteggtest, Rorschach, Szonditest, Astropsychologie etc.)

Für umfassendere Abklärungen und Personalselektionen empfiehlt sich immer eine kombinative Anwendung, sicherlich mit Gesprächen, Referenzen etc. gepaart.

Zur Ausbildung des Graphologen

Um höchsten Ansprüchen zu genügen, sollte die graphologische Ausbildung mit einer psychologischen Ausbildung kombiniert sein (so wie es die SGG, Schweizerische graphologische Gesellschaft verlangt), im Idealfall zudem noch mit einer psychotherapeutischen und tiefenpsychologischen Ausbildung.

Nur dann ist gewährleistet, dass der Graphologe auch über eine fundierte Kenntnis der psychologischen Zusammenhänge, der Neurosenlehre und der Pathologie verfügt und in einem mündlichen Gespräch den Schriftautoren spontan und psychologisch geschickt führen und beraten kann, ev. bis hin zu einem beginnenden therapeutischen Gespräch.

Nur der psychologisch Geschulte kann die wirkliche Psychodynamik zwischen Wünschen, Triebbedürfnissen und deren Kontrolle oder Abwehr lebendig darstellen oder Phänomene, die der Klient schildert, in ihren Wurzeln und Ursachen verständlich erklären.

Dies gewährleistet dann eine dynamische Darstellung, welche zu Aha-Erlebnissen führt, und nicht nur eine statische Auflistung von Eigenschaften - wie sie manchmal bei nicht psychologisch geschulten Graphologen vorkommt.

Die Kombination der Graphologie mit der Tiefenpsychologie, v.a. mit der Schicksalspsychologie (und dem Szondi-Test) hat sich als äusserst fruchtbar für tiefergehende Abklärungen erwiesen.

Die Kombination von klassischer Graphologie und Schicksalsanalyse führt dann auf der Stufe der Theoriebildung zu einer Weiterbildungsstufe für die klassischen Graphologen: zu einer erweiterten Ausbildung, nämlich der Ausbildung zum spezifisch schicksalspsychologischen Graphologen, welcher auch eine Bedürfnisanalyse in der Schrift machen kann.
(Weiterbildungssangebote für klassische Graphologen: siehe unter Button Institut ISCHAP).

Interdisziplinäre Graphologie

Da die Handschrift auch durch die Wirkungen der Hirnphysiologie zustandekommt, können in der Schrift auch hirnphysiologische Eigenheiten erkannt werden (z.B Manifestationen der linken oder rechten Hirnhälfte, deren Dominanzen oder deren Integration), allenfalls auch neurologische Störungen und Irritationen, welche nicht nur seelisch bedingt sind, festgestellt werden.

ADHS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrome, früher POS genannt), epileptische Störungen, Störungen im Spannungs-Entspannungs-Rhythmus, Auswirkungen von Süchten können als motorische und Strich-Auffälligkeiten in der Schrift sichtbar werden.

Häufig ist sogar der Graphologe der Erste, der durch die Strichanalyse leichte hirnphysiologische Störungen erkennt, wenn er z.B. leichte Zitterzüge, Entgleisungen der motorischen Kontrolle etc. wahrnimmt, welche durch einen beginnende neurologische Erkrankung oder durch Süchte, Medikamenteneinwirkungen u.a. bedingt sind.

Daher ist es wichtig, dass die Arbeit des Graphologen bei einem Anfangs-Verdacht auch von Aerzten und Neurowissenschaftern sehr ernst genommen wird und es zu einer interdisziplinären Abklärung beim Klienten kommt.

Die Handschrift kann nämlich nicht nur als psychologisches Instrument ein-gesetzt werden, sondern erste Verdachtshinweise auch auf medizinische und neurowissenschaftliche Probleme geben!!

Veränderungen der Handschrift
(durch seelische, körperliche, neurologische, medikamentöse u.a. Einwir-kungen)

Normalerweise bleibt die Handschrift mit ihren typischen Kern-Merkmalen über Jahrzehnte hinweg relativ konstant und ist in ihrer Unvergleichbarkeit einem Fingerabdruck, der auch für Kriminalfälle und Schriftgutachten vor Gericht eingesetzt wird, ähnlich.

Formen in der Schrift könnten zwar bewusst verändert und verstellt werden, nicht aber der Strich!

Traumata, Schockerlebnisse und starke Beeinträchtigungen der körperlichen und seelischen Gesundheit hingegen können die Schrift massiv und plötzlich verändern.

Der Allgemeinmediziner und Hochschuldozent Prof. Dr. Reinhard Ludewig, international anerkannter Autor von Standardwerken in klinischer Pharmakologie und Toxikologie / Vergiftungslehre setzt sich seit über einem Jahrzehnt dafür ein, dass die medizinische und psychologische Interpretation von Handschriftenveränderungen in das ärztliche Grundstudium und in die Fortbildung einbezogen wird!

1993 wurde an der Leipziger Universität der erste interdisziplinäre Lehrauftrag für "Medizinische Graphologie und Schriftpsychologie" erteilt.

Ludewig betont, dass sich neben den psychischen Störungen oft zahlreiche Erkrankungen des Nervensystem, Vergiftungen und Unverträglichkeiten, Aus-wirkungen von Drogen, Medikamenten, Umwelt- und Genussgiften frühzeitig in Form einer Handschriftenveränderung manifestieren:

Zum Beispiel werden Zitterzüge/Tremore und Ataxien (Störungen der Ziel-bewegung) durch verschiedenste Krankheiten sowie typischerweise auch durch Vergiftungen verursacht. Auslassungen von Buchstaben und Worten oder auch Wortwiederholungen können Ausdruck einer Schädigung des Nervensystems sein. Eine immer kleiner werdende Schrift kann schon frühzeitig auf Parkinson hinweisen oder auf Nebenwirkungen eines Neuroleptikums (eines Medikaments gegen schwerere psychische Störungen wie Schizophrenie etc.). Die Handschrift kann in letzterem Falle auch eine Hilfe für die Dosierung eines Medikaments werden!

Eine für das geschulte Auge des Graphologen auffällige, für den Laien aber oft nicht klar sichtbare Veränderung der Handschrift, ist oft Anlass für eine eingehendere ärztliche Untersuchung.

Umgekehrt aber kann die Gesundung einer Schrift auch den Erfolg und guten Verlauf einer medizinischen und medikamentösen Behandlung anzeigen.

Literatur:
Reinhard Ludewig
a) "Akute Vergiftungen und Arzneimitteldosierungen" 1. Auflage 1966, 10. Auflage 2007
b) "Leitsymptom Handschriftenveränderung", im Aerzteblatt Sachsen, Ausgabe 10/2007 bis 1/2008 oder unter (www.slaek.de)