Die „schicksalspsychologische Foto-Analyse“*

Signierung und Interpretationen von Personen-Fotos

(Begriff von I.Grämiger, 2013)

Da der Schicksalsanalytiker sämtliche Phänomene des Lebens gemäss den 8 (resp. 16) Bedürfnissen des Menschen signieren kann, bietet sich auch die Signierung von Fotographien an, nicht nur von Portraits/Gesichtern (wie dies im Szondi-Test geschieht), sondern auch von den ganzen menschlichen Gestalten und den auf dem Foto sichtbaren zwischenmenschlichen Interaktionen etc.

Welche Manifestationen von Bedürfnissen oder auch welche Energien können wir auf den Fotos erkennen?

Welche Triebfaktoren können wir im Gesichtsausdruck, in den Augen, der Ausstrahlung, der Konstitution, der Körperhaltung, den Bewegungen und gar in der Bezugnahme zu anderen Personen, in Hin- oder Abwendungshaltung erkennen? Es gibt Betrachter, welch mit einiger Uebung sogar die Energieflüsse zwischen den Menschen erfühlen können!

Wir können so einzelne fotographierte Lebensausschnitte analysieren – aber noch viel mehr bringt die Auswertung von Fotographien über die ganze Kindheit oder das Leben hin in einem Längsschnittverfahren.

Die schicksalsanalytische Foto-Analyse (im Längsschnitt) ist immer mehr zu einem zentralen Punkt meiner schicksalsanalytischen Beratungen, Therapien und Psychoanalysen geworden.

Denn die Fotos sprechen eine untrügliche und unmittelbare eigene Sprache – und enthüllen oft Dinge, welche der Klient nie benennen konnte.

Beispiele:

  • So wurde bei „Johannes“ aufgrund der Reihe von Kindheitsfotos untrüglich sichtbar, in welchem Lebensjahr ein traumatischer Einfluss vorhanden war, denn ab dann verlor er sein vorher strahlendes Lächeln.
    Dies brachte ihn dann dazu, tiefer über die Ereignisse dieses Lebensjahrs zu forschen – und sein nur diffuses Gefühl, dass etwas Einschneidendes in dieser Zeit passiert sein musste, wurde erhärtet. Und er begann, seinen Gefühlen und Erinnerungen mehr zu vertrauen, da diese durch die Fotoreihe quasi „objektiviert“ worden waren.
    Er fand danach heraus, dass in diesem Jahr ein Wohnortwechsel der Familie stattgefunden hatte – mit mangelnder Vorinformation der Kinder, mit Belügungen derselben, mit einem unguten, zu plötzlichen Herausgerissenwerden aus der alten Umgebung, aus den Freundschaften und einer völlig „defekten“ Verabschiedung. Er verlor damals das Vertrauen in seine Eltern komplett und konnte dieses nie mehr herstellen. Damals begann sein Rückzug aus allen Beziehungen in eine eigene Phantasiewelt.
  • Ein andermal stellte ich fest, dass auf sämtlichen Fotos (von Säugling bis zu 40 Jahren) eine italienisch-stämmige Tochter nie von ihren Eltern berührt wurde, auch nie irgendeine körperliche Hinwendung zu ihr sichtbar wurde – während Berührungen und Hinwendungen, Umarmungen der Schwester sehr häufig waren.
    Das diffuse und nur schwierig begründbare Gefühl, dass sie in ihrer Familie eine „Ausgestossene“ „ein Alien“ und eine Benachteiligte gegenüber der Schwester sei, fand seinen Beweis in der Foto-Analyse. Das vorhandene Rivalitätsproblem mit der Schwester (das Kainsproblem) entstammte gemäss der Foto-Belege aber nicht einer übermässigen Eifersucht ihrerseits sondern schien sehr real durch die Bevorzugung der Schwester durch die Eltern ausgelöst worden zu sein und der Realität zu entsprechen.
    Die anfängliche Uebertragung dieser Alien-Situation auf die gesamte Welt und alle Menschen konnte danach weitgehend aufgelöst werden.
  • Eine besonders symbiotische Elternpaar-Konstellation war in einer anderen Familie offensichtlich: da sah man die Eltern in inniger Beziehungsaufnahme in Form von Zärtlichkeiten, Zuwendungen der Körper, Bezogensein durch Blickkontakt – während die 2 Kinder des Paares völlig isoliert und vereinzelt, innerlich weit weg und bezugslos „herumstanden“ und auch keinen Kontakt zu einander suchten.
    Der geäusserte Verdacht der Klientin, dass die Eltern eigentlich zutiefst gar keine Kinder gewollt hätten, mit dem Kinder-Haben vielmehr nur ein gesellschaftliches „Soll“ erfüllt worden sei und sie als Kinder diese Symbiose nur störten – war plötzlich bildlich belegbar genauso wie die Tatsache, dass es niemals eine Loyalität unter den Kindern gegeben hatte. In diesem Falle hatte die Einsamkeit der Kinder, das Ausgeschlossensein aus der zärtlichen Beziehung des Elternpaares nicht zu einer Verbündung und gegenseitigen, ersatzhaften „Ernährung“ der Kinder geführt. Und es war nicht verwunderlich, dass diese sich auch im Erwachsenenalter kaum etwas zu sagen hatten.

Auch Tendenzen zur Inversion sind aufgrund der Fotos recht gut erkennbar, wenn sich in der Familie die weiblich-feingliedrigen Männer oder die männlich-starken Frauen häufen. Gerade diese Inversionstendenzen werden von den Klienten selbst oft kaum wahrgenommen oder zum Thema gemacht, tauchen erst im Szondi-Test und den Fotographien auf.

Neben der direkten, einfühlenden Betrachtung der Fotographien holen wir nun wiederum mit der Beobachtung unserer eigenen Gegenübertragung auf das Fotographierte eine weitere Tiefen-Dimension heraus.

Denn die Fotos, erstmals vom Schicksalsanalytiker in deren Aussagekraft erblickt, lösen bei diesem oft intensivste Gefühle aus:

z.B. heftiges Mitleid mit dem kleinen, traurigen, 4 jährigen Johannes, der sein Lächeln verlor oder die erschreckende Wahrnehmung der Isolierung der vereinzelten, verlassenen Kindern der symbiotischen Eltern usw.

Aber auch gute Gefühle über eine Familie mit sichtbar, lebhafter, bewegter und dynamischer Interaktion, zärtlichen Berührungen, strahlendem Augenkontakt und Freude über diese Ressourcen können entstehen und viel Dankbarkeit auslösen.

Teilt nun der Schicksalsanalytiker die durch die Fotos entstehenden Gegenübertragungen dem Klienten mit (das Mitleid, den Schrecken über die Vereinsamung usw.), so kann dies einen grossen, heilenden Prozess auslösen.

Für mich sind solche Foto-Analysen, welche ich meist erst nach einiger Laufzeit der Therapie mache (was sich meist natürlich so ergibt), eine gute sekundäre Kontrolle des therapeutischen Prozesses, der herausgearbeiteten Hypothesen über die Familiendynamik und die seelische Entwicklung eines Klienten.
Die Fotographien machen uns beide sicherer: den Klienten und mich als Therapeutin.

Und meist sind die Fotos so direkt, so anschaulich-eindringlich, dass ich einzelne nie mehr vergessen werde und auch nicht die Familiengeschichten, welche sie erzählen – vor allem noch, wenn die „Ahnen“, die Gross- und Urgrosseltern durch die Fotos direkt erfassbar werden und uns anblicken.

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