Manchmal muss man sich einmischen.

Eine schicksalspsychologische Einmischung am Geschworenen-Gericht zum Thema epileptiforme Dämmerattacke

Ines Grämiger 2006/2007

 

Das erste mal traute ich mich, als Zuschauerin an einer Gerichtsverhandlung am Geschworenengericht teilzunehmen – und gleich brannte es mir „schicksalspsychologisch unter den Nägeln – und ich konnte nicht umhin, mich einzumischenö zumal ich die Zeichnerin der Gerichtsverhandlung persönlich kannte, sie mich gleich in den heeren Bereich des Gerichts mitnahm, wo sich alle Parteien und auch der Gerichtsgutachter tummelte.

übrigens ist so eine Teilnahme an einer Gerichtsverhandlung ungeheuer spannend für jede Psychologen-Seele, ist Adrenalin pur, eine anschauliche, erlebnisintensive Lehre zu Kain und Abel (zum P), ein Kampf der beiden im Gerichtssaal, ein höheres „Spiel“: der Verteidiger stellt den Angeklagten als harmlos oder reuig dar, der Staatsanwalt als „Teufel“. Die armen Geschworenen, die ja keine Fachleute sind, müssen dann entscheiden!

Aber leider ist es noch kein gemeinsamer Versuch aller Fachleute, die Wahrheit zusammen und nicht gegeneinander zu finden.

Das hat mich sehr nachdenklich und bedenklich gestimmt.

(Ines Grämiger, März 2007, bereits eingegeben in die „Brücke“/offizielles Organ des Szondi-Institutes ZH)

 


 

Hier nun der Brief der Einmischung (dieser Orts mit Geheimhaltung der wirklichen Namen)

An das Geschworenengericht
Fall: Jonny Merbes ((Pseudonym))
Hirschengraben 13

8023 Zürich

Zürich, 27.10. 2006

 

 

Betr.: Nicht überprüfte Ursache der Amnesie: mögliche epileptiforme Dämmerattacke?

 

 

Ich gelange an Sie als Psychologin lic.phil.I, als Schicksalsanalytikerin und Szondi-Test-Expertin – welche sich seit über 40 Jahren mit den Szonditesten auch von Kriminalfällen auseinandersetzt – sowohl als Diagnostikerin als auch als Dozentin an der Hochschule für Angewandte Psychologie (HAP) wie auch am Szondi-Institut ZH

Ich war anwesend bei der ausgezeichneten, auch würdebewahrenden psychodynamischen Darstellung des Gerichtspsychiaters Drö.

Was mir aber bei seinen Ausführungen fehlte, war, dass die Hypothese der epileptiformen Dämmerattacke (bei der der Mensch zwar handlungsfähig ist, aber nicht bei Bewusstsein und ohne Erinnerungsvermögen, das heisst, in völliger Absenz agiert – wobei ev. vorher tief verdrängte oder kontrollierte Triebimpulse durchbrechen können und oft auch Delikte begangen werden) nicht diskutiert und auch nicht mit differenzierten Begründungen ausgeschlossen wurde.
Er erwähnte nur in einem Satz und ohne Begründung, dass Epilepsie ausgeschlossen werden konnte.

Ich habe Herrn Drö. mittags darauf angesprochen. Er erwähnte, dass die Epilepsie durch Befragung des Umfeldes ausgeschlossen wurde.

Meines Erachtens kann das Umfeld zwar wohl die klassischen Anfälle von Epilepsie wahrnehmen, niemals aber Dämmerattacken oder andere Epilepsieaequivalente (= weniger starke Anfälle und Symptome). Dazu braucht es einen Fachexperten und auch eine hirnphysiologische Abklärung mit EEG etc.

Sogar wenn das EEG keine Auffälligkeiten massiver Art zeigt (da es oft nur die manifest-klassischen Anfälle und nicht die latenten Kleinformen registriert), ist eine latente Epilepsie immer noch nicht auszuschliessen.

Ein feineres Instrument für die Erfassung von Kleinst-Ausformungen von epileptischen Aequivalenten ist der Szondi-Test, welcher die Triebstruktur (z.B. Aggressionsgrad, Wutstauung und andere Triebimpulse) zeigt und auch latentere Strukturen erfassen kann.

Herr Dr. ö. erklärte mir, dass die These der epileptiformen Dämmerattacke fallengelassen wurde, da noch nie eine solche bei Herrn Jonny Merbes bisher festgestellt wurde.

Meiner Erfahrung nach aber können Dämmerattacken dem Patienten selber durchaus nicht bewusst sein. Zudem würde ich auch eine einmalige Dämmerattacke als Möglichkeit nicht einfach ausschliessen. Wenn man annimmt, dass Herr Merbes realisierte, dass er die Frau umgebracht hat – könnte das einen solchen Hirnschock ausgelöst haben.

Ich fühle mich als Fachexpertin aufgerufen, Sie als Geschworene (die Sie eine äusserst schwierige Aufgabe haben und dem Angeklagten gerecht werden müssen) über diese diagnostische Möglichkeit zu informieren.

Es gibt dazu viele Falldarstellungen in der kriminologischen Literatur, bei denen Delikte oder Teile von Delikten in der Dämmerattacke begangen wurden.

Das würde auch erklären, warum die sehr aggressiven Teile der Tat nicht zu der sonstigen Persönlichkeit des Angeklagten passen – da es sich um den Ausbruch des Schattens der Persönlichkeit handelt.

Der Szondianer und Ex-Bundestaatsanwalt Dr. Hans Walder schilderte in meiner Ausbildung immer wieder solche Fälle.

Der Schicksalspsychologie ist es bekannt, dass v.a. Menschen, die sehr gut und helfend sind, keine Wut und Aggression im Alltag spüren, zeigen und entladen können, vermehrt gefährdet sind, zu epilepsieähnlichen Somatisierungen zu neigen.

Herr Merbes ist für uns Schicksalspsychologen ein geradezu „klassischer“ Fall für die Abspaltung von Gut und Böse.

Ausserdem zeigt auch die Verarbeitung von Schmerz und Frustration von Herrn M. (die Frustration mit einer Fahrt über Berge auszuleben), einen klassischen, epileptiformen Abwehrmechanismus von Wut.

Ebenso scheint es mir auch wichtig, im Zusammenhang mit einer Therapie von Herrn Merbes, diese Hypothese zu verfolgen. Denn, was nützt eine Therapie, wenn dieses Geheimnis der Amnesie nie aufgeklärt wird?

Zudem sollte Herr M. von einem psychiatrischen Fachexperten für Epilepsie auch auf mögliche Dämmerattacken im Vorfeld hin befragt und untersucht werden.

Handelt es sich wirklich um einen epileptiformen Vorgang (bei dem Herr M. zu besonderer Gewalttätigkeit neigte), dann müssten auch Anti-Epileptika zur Behandlung seiner Rückfallgefahr in Erwägung gezogen werden und wären hilfreich!

Ich hoffe, Sie verstehen, dass ich als Fachexpertin im Dienste echter Wahrheitsfindung nicht schweigen durfte und konnte.

Ihnen wünsche ich von Herzen Kraft für Ihre sicher nicht leichte Entscheidung.

Falls Sie Fragen an mich als Szondi-Expertin und Schicksalspsychologin habe, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.

Ines Grämiger

russische_uebersetzungen.pdf