Ein Traumdeutungs-Experiment
(teilweise veröffentlicht in der Illustrierten „Schweizer Familie“ 9/2009)

a. Einleitung

Als die äusserst vielseitige, auch tiefenpsychologisch und szondianisch interessierte Journalistin Nicole Tabanyi am Szondi-Institut ZH auf der Suche nach einer traumdeutenden Schicksalspsychologin vorstellig wurde, welche sich für eine Traumdeutung zur Verfügung stellen würde, ergriff ich die gebotene Gelegenheit mich an einem Traumdeutungsexperiment zu beteiligen, welches auch gleichzeitig veröffentlich werden würde.

Statt der anfangs konzipierten Traumdeutung eines schriftlich abgegebenen Traumes schlug ich aber eine Traumdeutung life und lege artis vor und erklärte mich bereit, den Traum mit der Träumerin auf der Couch gemäss der Technik der Tiefenpsychologie mit sämtlichen ihren Assoziationen, Gefühlsanalysen etc. durchzuführen – gemäss der Ablauftechnik der schicksalspsychologischen Traumdeutung (wie sie im vorhergehenden Textabschnitt zu lesen ist).
Denn eine professionelle Traumanalyse wird niemals ohne den lebendigen Dialog mit dem Träumenden, ohne Erfragung von dessen Assoziationen und Gefühlen gemacht.
Andernfalls bestünde die Gefahr, dass der Deutende Eigenes in den Traum des Träumenden hineinprojiziert.

Die Fotos des Fotographen zeigen v.a. in der Grossaufnahme auch die reale Situation der Traumdeutung, wie sie auch Freud und Szondi anregten, wenn die Träumerin ohne Sichtkontakt zur Deutenden auf der Couch in einer psychologischen Praxis liegt.

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(Praxis I. Grämiger, Couch für die Traumdeutung u. Psychoanalyse, Foto: Kilian Johannes Kessler)

Darauf würde ich mich N. Tabanyi für ein Interview über die Traumdeutung zur Verfügung stellen.

Die ganze Traumdeutungs-Arbeit mit der Träumerin dauerte ca. 2 1/2 Stunden, war äusserst ausführlich und reichhaltig und auch so persönlich, dass hier (und sicherlich in der Veröffentlichung in der „Schweizer Familie“) auf eine vollständige Wiedergabe dieser Bearbeitung verzichtet werden musste und muss.

In einem ca. 1 stündigen Interview von N. Tabayi mit mir als Traumdeuterin wurde über die allgemeinen Deutungstechniken und über wichtige Sequenzen im Traum dieser Träumerin nur zusammenfassend gesprochen.

b. Der veröffentlichte Text in der „Schweizer Familie“ 9/2009

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c. Der vollständige Text des Interviews von N. Tabanyi mit I. Grämiger
(Text: Nicole Tabanyi, ergänzt von I. Grämiger)

Es ist verständlich und üblich, dass in Zeitschriften nicht immer sämtliche Hintergrunds-Texte in ihrer vollen Länge veröffentlicht, sondern oft von Redaktoren gekürzt werden.

Der vollständige Hintergrunds-Text wird hier auf meiner website veröffentlicht, weil er noch mehr Erklärungen anbietet für den weiter interessierten Leser.

Traum-Analyse: Ein Traum – zwei Deutungen

Der Traum: „Ich bin mit ein paar Freunden unterwegs, wir kommen zu einer weiten Landschaft mit einem See und verschiedenen Grünflächen und kleinen Häusern. Ich gehe hin zum See: am Ufer steht ein Boot. Ich ziehe meine Kleider aus, lasse sie liegen, steige ins Boot und paddle nackt auf den See.
Weit entfernt von der Wiese, wo meine Freunde sind, und als ich sie nicht mehr sehe – beginnt das Boot zu schaukeln als ob es ein Meer wäre und nicht eine ruhige See. Ich spüre Wellen um mich herum, und denke: „Ich muss zurück“.
Ich entscheide, dass es gefährlich ist und rudere zurück. Meine Freunde und meine Kleider sind nicht mehr da… Es ist menschenleer. Ich gehe nackt weiter und finde eine kleine Hütte im Wald, finde dort Kleider und ziehe sie an. Es sind nicht meine Kleider. Ich mache mich auf den Weg und sehe am Boden eine Münze – und mehr und mehr. Ich wundere mich, was die Münzen da machen, nehme sie auf.
Ich habe nämlich kein Geld, keine Identitätskarte, keinen Pass…..
Ich laufe weiter durch den Wald und komme in eine Stadt und laufe durch Strassen, die mir bekannt vorkommen, lese die Strassennamen, an die ich mich aber nicht erinnern kann, die ich nicht verstehen kann, wie in einer fremden Sprache. Dann komme ich zum Bahnhof und finde ein Ticket. Ein Zug hält an, ich setze mich in den Zug und fahre und steige nach einiger Zeit auf einem Bahnhof aus. Ich öffne die Türe – und meine Freunde sind dort! Ich will die Münzen aus meinem Sack (Jacken-Tasche) nehmen. Die aber haben sich verändert, sind wie grosse Taler geworden, nicht mehr klein und glänzend, sondern gross und schön und relief-artig. Ich zeige sie stolz. Dann bin ich erwacht.“

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Ines Grämiger, Schicksalsanalytikerin, Dozentin und Stiftungsrätin am Szondi-Institut ZH, erfahrene tiefenpsychologische Traumanalytikerin, bietet seit über 35 Jahren in ihrer Praxis in Zürich schicksalsanalytische Beratung, Psychotherapie, Laufbahn- und Berufsberatung sowie Graphologie an.

Methode: Schicksalsanalyse: Sie beschäftigt sich mit den acht Trieben und Grundbedürfnissen, die teilweise vererbt werden und die in uns schlummern. Mit der Schicksalsanalyse zeigte der ungarische Psychiater Leopold Szondi (1893 bis 1986), der ab 1946 in Zürich lebte, einen Weg auf, wie man aus dem kranken Zwangsschicksal der Ahnen ein gesünderes Freiheits- und Wahlschicksal machen kann. Gerade Träume geben viele Hinweise darauf. Denn nach Szondi weisen alle Stationen und Symbole eines Traumes auf Trieb-Bedürfnisse hin. Neigt jemand etwa zu unkontrollierten affektiven Gefühlsausbrüchen, so zeigt der Traum (wie etwa bei unserer Träumerin) ev. Lösungen auf, wie innere, ev. auch erblich mitbedingte Spannungen abgebaut und anfallsartige Affekthandlungen umgewandelt, trans-formiert werden können (nämlich z.B. durch den Ort-Ver-lassen: wie Bootfahren, Laufen, Verreisen, Zugfahren)

1. Freunde

Grämiger: Der Traum beginnt und endet mit der Beziehung zu den Freunden (allerdings nicht mit intensiver Auseinandersetzung, aber auch nicht mit Konflikten).

Ist die Träumerin daher ein ausgeprägter Kontaktmensch oder hat die Träumerin eine Sehnsucht nach Freunden und müsste sie ihre Freundschaften mehr pflegen?

2. Nackt im Boot

Grämiger: Die Träumerin paddelt (laut nachfolgender Befragung) im Einklang mit sich und ihrem Körper auf den See. Ungeniert und ohne Scham bewege sie sich jenseits der Normvorstellung und zeige sich bis auf die Haut.

Das Enthüllen ohne Scham, das Gesehen-werden-Wollen, das wagt die Träumerin frei von der Angst, bestraft oder beschämt zu werden und setzt sich damit über Normen hinweg. Sie mache es ungeniert, weil es für sie richtig und lustvoll sei. D. h. sie hat ein nicht fremdgesteuertes (autonomes Gewissen, das ihr diesen nackten und auch erotischen Ausflug im Boot erlaubt.

3. Ein Sturm zieht auf

Grämiger: Die Wellen, die das Boot zum Schaukeln bringen, zeigen eine Gefahr an. Die Träumende könnte untergehen, aber sie rettet sich und bringt sich in Sicherheit. D. h. die Träumerin sorgt sehr gut für sich, schützt sich, geht keine Selbstgefährdung ein. Der Sturm kann nicht nur eine äussere Gefahr sondern auch eine innere Gefahr anzeigen: Alles braut sich zusammen. Zeigen sich hier Formen von Wut? ärgert sich die Person häufig? Gibt es Gefahren von Affekten in der Familie, Handlungen, bei denen die Kontrolle verloren ging? Gibt es eine Neigung zu körperlichen Reaktionen (Somatisierungen) bei Gefühlsspannungen?

4. Kleider und Freunde sind weg

Grämiger: Die Träumerin hält sich (gemäss Nachbefragung) nicht lange mit der Situation auf, dass die Freunde und ihre Kleider weg sind. Sie fühle sich nicht verlassen, das sei kein Drama, der einsetzende Regen erkläre das Weggehen der Freunde. Sie ziehe einfach weiter. Das heisst: Sie kann gut alleine sein und sich gut alleine bewegen. Vielleicht braucht sie neben dem Kontakt zu Menschen immer wieder auch den Rückzug ins Schweigen, Alleinsein, sollte ev. hin und wieder ins Einsiedlertum gehen oder alleine in die Ferien fahren, damit das Gleichgewicht zwischen Geselligkeit und Alleinsein gewährleistet ist.

5. Kleider finden

Grämiger: Die Träumerin pendelt zwischen Sich-Enthüllen und Sich-Verhüllen mit den Kleidern hin und her, zwischen Gesehen-Werden in ihrer Nacktheit und Sich-Verbergen. Das Thema der Visualität, des Geltungsbedürfnisses ist angesprochen (Sehen und Gesehen-Werden): Wann ist sie Schauspielerin, wann Zuschauerin auch im realen Leben? Im Gegensatz zu den groben Affekten (Wut, Jähzorn) bei der drohenden Gewitter-Szene werden hier die sogenannt feinen Affekt-Bedürfnisse (des Beachtet- und Gesehen-Werden-Wollens ) sichtbar: wann und wie schauspielert sie, stellt sie sich dar um Applaus zu bekommen? Möchte sie gefallen und auftreten? In der Szene mit dem Boot und den Kleidern wird die ganze Affektlehre von Szondi sichtbar (das Thema der groben und feinen Affekte). Daraus folgt: Die Träumerin gehört zum sogenannten überraschungs- und Affekt-Typ. Sie ist ein Mensch mit groben und feinen Affekten – dies zeigt sich in der Wahl der Symbole des Traumes, obwohl niemals direkt von Wut oder Gesehen-Werden-Wollen gesprochen wird! (dies ist somit eine heimliche, verborgene Botschaft des Traumes, welche nur der schicksalsanalytisch Denkende entdeckt)

6. Münzen

Grämiger: Die Träumerin findet Münzen am Boden. Sie wird materiell versorgt im Bereich des Habens, Besitzens. Sie findet, was sie braucht. Ist das ein Wunsch, eine Hoffnung oder liegt möglicherweise etwas Hellseherisches in der Szene der Münzen, fällt ihr in Zukunft mehr materielles Glück zu (im Gegensatz zu einem realen Leben mit viel Kampf um den Erwerb, wie die Träumerin assoziiert)? Die Münzen sind golden, was etwas Wertvolles, häufig auch ein strahlendes Selbst-Wertgefühl oder das höchste Selbst (das ganz Sich-selber-Werden ) anzeigt.

7. Strassenschilder in fremder Sprache

Grämiger: Die Schilder sind der Träumerin bekannt und doch kann sie sie als Fremdsprache nicht übersetzen. Auch dies beunruhige sie aber nicht. Hier wird das Thema der Sprache, des Nichtverstehens von fremden Sprachen angesprochen. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Träumerin eine Begabung für Sprachen, Geisteswissenschaften (Studium phil. I: Sprachwis-senschaft, Psychologie, Philosophie, Religion) hat.

8. Bahnhof, Fahrkarte

Grämiger: Auf wundersame Weise hält die Träumerin plötzlich eine Fahrkarte in der Hand und steigt in den Zug. Sie habe nicht gewusst, wohin die Reise gehe. Sie sei einfach ganz vertrauensvoll und sich der Situation hingebend, eingestiegen. Der Zug habe sie „nach Hause“ und zu den Freunden geführt, hinein in die Beziehung.

Nach Szondi stellen alle Verkehrsmittel ein ersatzhaftes Ventil für grobe Affekte (Wut, Zorn etc.) dar, denn das Den-Ort-Verlassen oder „Ausreissen“, das Ver-Reisen und Reisen sind Möglichkeiten, wie sich Wut-Aufstauungen indirekt entladen können. Indem jemand in den Zug steigt oder in einem Streit einmal um den Häuserblock rennt, kann er Spannungszustände abbauen.

Die Träumerin hat in diesem Traum eine unbändige Lust, den Ort zu verändern (Bootsfahren, Laufen, Zugfahren). Sie sollte dies ev. auch im realen Leben immer wieder tun – um affektive und körperliche Spannungen oder Somatisierungen (wie Kopfweh etc.) abzubauen.

9. Freunde treffen, Münzen zeigen

Grämiger: Münzen, die grösser werden, zeigen ein noch wachsendes, vergrössertes Selbstgefühl und mehr Glanz an, ev. den Prozess der Selbst-Werdung. Die Münzen hätten ausserdem einen anderen Wert bekommen, seien plötzlich keine Zahlungsmittel mehr gewesen, sondern seien ein künstlerisches, aufgeblähtes Relief geworden, bei dem der Kopf der Münze sich zu einem ganzen Menschen verwandelt habe. D.h. hier ist eine Verwandlung (Transformation) ersichtlich: von einem finanziellen, materiellen Gegenstand zu einem künstlerischen Gegenstand, vom „Kopf- und Zahlenlastigen“ hin zum künstlerischen Ausdruck und zum Ganzen. Also vom Haben zum Sein, zum Menschsein, zum Ganz-Sein und zum Kreativen.

Dies kann als ein Entwicklungsvorschlag des Traumes angesehen werden, der auch einen Heil- und Ganzwerdungsvorgang (oder einen „Menschwerdungs- und Humanisierungsprozess“ im Sinne der Schicksalsanalyse) andeutet.

10. Quintessenz

Grämiger: Es handelt sich hier um einen sogenannt „grossen Traum“, einen Lebenstraum, der viel Lebenssymbolik enthält, gleichsam wie eine Reise durch ein ganzes Leben anmutet. Ihre Reise ist durch Hingabe und Aufgeben des eigenen Kontrollzwanges gekennzeichnet. Der Traum führt die Träumerin märchenhaft und traumwandlerisch sicher durch die Welt, er führt sie „nach Hause“ zurück und zu den Freunden, in die Beziehungen – und sie lässt sich führen.

So könnte dies mithin auch ein spiritueller Traum des „Heimgehens“ (im Sterben und Tod) sein. Im Traum habe sie viel Vertrauen, ein sogenanntes Gottvertrauen ins Leben gehabt, alles sei gut gekommen, solange sie sich dem Strom des Lebens übergeben habe. Und sie habe immer gefunden, was sie brauchte. Deshalb sei sie auch mit unglaublichen Glücksgefühlen erwacht. Diesen Traum würde sie nie mehr vergessen, er würde sie in ihre Zukunft begleiten und ihr Hinweise geben, zu vertrauen, Sorgen und Aengste noch mehr loszulassen.

Somit erweist sich dieser Traum sowohl als Heiltraum (für ein oft schwieriges Leben, in dem sie sich Vieles mühsam erkämpfen musste) wie auch als Lehrtraum für die Träumerin.

d. Die Gegenübertragungsanalyse gegenüber dem Traum (I. Grämiger)

Wie schon erwähnt, werden bei einer professionellen Traumdeutung nicht nur die objektiven Inhalte des Traumes, die Assoziationen und Gefühle des Träumenden gedeutet, sondern als Letztes auch die Gefühle und Themen, welche der Traum während des Erzählens oder Deutens des Traumes (die sogenannten Gegenübertragungsgefühle) beachtet.

In diesem Traumexperiment waren die Gefühle der Träumerin nach dem Traum, aber auch noch Tage danach folgende: Glücksgefühle, ein hingebendes Vertrauen in den Lauf des Lebens, ein märchenhaftes und traumwandlerisches Finden von dem, was sie brauchte – aber auch das Gefühl: „es ist fast zu schön um wahr zu sein“ (ein Gefühl, welches im Gegensatz zum wirklichen Vergangenheit der Träumerin stand, die sich Vieles hart erkämpfen musste). Es war ein Gefühl, das ihr vielmehr die Zukunft zu öffnen schien.

Der Traum erzeugte aber in seiner Fülle, Weite und Grenzenlosigkeit (Inflation) auch das Gefühl des Ueberfordertseins beim Deuten. Nach 2 1/2 Stunden Traumberarbeitung musste die Arbeit am Traum abgebrochen werden wegen Erschöpfung unsererseits, und aus Zeitmangel – obwohl der Traum noch lange nicht fertig gedeutet war. Wir waren auch am Ende unserer seelischen Kräfte infolge der Konzentration und Intensität der Deutungsprozesse.

Also mussten wir uns beide üben im Uns-Beschränken. Wir mussten die Arbeit beenden, obwohl sie noch nicht perfekt und vollständig getan war. Wir sprachen uns auch beide gegen einen zweiten Termin aus, konnten das Unfertige so stehen lassen und waren dennoch zufrieden.

Dieses Lebens-Thema der Träumerin zeigte sich mithin nur durch die Gegenübertragungsgefühle: die Aufforderung zur Selbstbeschränkung, zur Selbstbescheidung, zur Grenzsetzung, zum Stopp-Sagen gegenüber drängender Fülle und kreativen Ideen, gegenüber Ueberforderung und Zuviel-Wollen.

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